Ist Minimalismus nur was für Reiche oder Gutverdiener?

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Zuletzt aktualisiert am 13. Januar 2023

Wir leben schon längere Zeit minimalistischer und versuchen unser Leben nachhaltiger zu gestalten. Für uns ist es ein absoluter Gewinn: Wir haben mehr Klarheit in unser Leben gebracht, alles ist strukturierter, wir haben mehr Geld und weniger Sorgen. Während ich also in meiner Filterblase schwamm, entdeckte ich diesen Beitrag „Armut ist kein Privileg. Dein Minimalismus schon“ von Cesly auf einefixeidee. Ich habe den Beitrag gelesen und musste intensiv darüber nachdenken, was ich davon halte.


Inhaltsverzeichnis


Ist Minimalismus nur was für Reiche oder Gutverdiener?

Ich arbeite als Sozialarbeiterin, daher habe ich tiefe Einblicke in das Leben von Menschen. Ich kenne privilegierte Menschen aber auch Menschen, denen es finanziell nicht so gut geht. Ich dachte also über diese Menschen nach und überlegte, ob für sie ein minimalistisches und nachhaltigeres Leben in Frage kommen würde. Ist es wirklich so, wie Cecly auf ihrem Blog oder auch Silvia Follmann auf Edition F meinen, dass Minimalismus nur für Gutverdienende praktizierbar ist?

Ich fragte meine Freundinnen, die alle privilegierte Akademikerinnen sind und gutes Geld verdienen, nach ihrer Meinung. Ich konnte mir da einfach keine schnelle Meinung zu bilden und wollte verschiedene Meinungen hören. Eine meiner Freundinnen sagte:

Wir haben damals aus Geldmangel minimalistisch gelebt. Ansonsten scheint es eher ein Hobby von wirtschaftlich Bessergestellten zu sein, die gerne optimieren.

Ich fand heraus, dass das Thema so vielschichtig und sehr tiefgreifend ist, weshalb ich darauf keine einfache Antwort finden konnte. Meine andere Freundin sagte:

Die einen sind dem Minimalismus verdammt mangels Geld. Die anderen entscheiden sich bewusst dafür. Erstere schämen sich häufig für ihren Minimalismus oder finden den Zwang dahinter ungerecht, Letztere feiern ihren Minimalismus, weil er oft das Ergebnis eines inneren Wertewandel ist, den man für gut findet und auf den man vielleicht auch ein wenig stolz ist.
Entsprechend kommunizieren Erstere wenig darüber, Letztere hingegen gern. Was Ersteren aufstößt, weil es für sie negativ konnotiert ist, was wiederum bei Letzteren auf Unverständnis stößt, weil es für sie positiv konnotiert ist.

Und ja, ich glaube, damit haben beide verdammt recht. Wenn jemand über ausreichend finanzielle Ressourcen verfügt, ist es viel leichter und wesentlich entspannter, sich von Dingen zu trennen, als für jemanden, bei dem das Geld sehr knapp ist. Es ist auch leichter auf Dinge zu verzichten, wenn man weiß, dass man sich im Notfall bestimmte Sachen kaufen kann.

Minimalismus ist freiwillig, Armut nicht

Wenn jemand über so wenig Geld im Monat verfügt, dass man sich die notwendigsten Dinge nicht oder nur schwer leisten kann, ist dieser Mensch arm und kein Minimalist. Der springende Punkt ist, dass Minimalismus eine bewusste Entscheidung ist, Armut hingegen meist nicht. Und in ungewollter Armut zu leben, schränkt die Alternativen und Möglichkeiten stark ein.

Ein Leben in Armut kann ein hartes Leben sein, gerade, wenn man noch Kinder zu versorgen hat. Man hat einfach kaum eine Wahl, sich für einen Lebensstil zu entscheiden. Man versucht, irgendwie über die Runden zu kommen. Ich spreche da selbst aus Erfahrungen, da ich selbst jung Mutter geworden und früher in einem schlecht bezahlten Job ausgebildet wurde.

Armut kann unerträglich werden und schmerzen

Zu sehen, wie Menschen immer weiter kaufen, sich teure Dinge leisten, immer den neuesten technischen Kam besitzen, teure Urlaube machen, das kulturelle Leben in vollen Zügen genießen und sich alles mögliche leisten können, kann zu einem unerträglichen Gefühl werden, wenn man es sich selbst nicht leisten kann. Wenn dann jemand daher kommt und sagt „Lebe minimalistisch! Es löst deine Probleme“ (oder eben nicht: Warum Minimalismus nicht deine Probleme löst) und dabei Fotos von schicken (teuren) Einrichtungen zeigt, trifft das direkt ins Mark. Es kann wütend machen. Vielleicht fühlt man sich auch verarscht. Wenn man in ungewollter Armut lebt, wirken solche Äusserungen und Fotos wieder blanke Hohn.

Ich erlebe es jeden Tag in meiner Arbeit, wie groß die Schere zwischen Arm und Reich ist und wie sie immer weiter aufeinanderklafft. Wie Familien kämpfen. Da ist das Mädchen, dass unbedingt ein bestimmtes Hobby machen möchte, dies aber finanziell nicht drinsitzt oder der Junge, der kein warmes Mittagessen in der Schule essen kann, weil es zu teuer ist. Vor allem die Familien, die für den Erhalt von Sozialleistungen etwas über der Einkommensgrenze liegen und daher nicht die Leistungen aus Bildung und Teilhabe erhalten, können sich viele kulturelle Angebote nicht leisten. Ich sehe täglich, wie Menschen viel arbeiten, engagiert sind und sich wirklich abrackern, das Gehalt aber kaum zum Leben reicht. Oder wie Menschen schwer erkrankt sind, auf Grund dessen arbeitsunfähig sind und ein Leben am Existenzminimum führen.

Das Problem: Der Hype um Minimalismus und falsche Darstellung in den Medien

Man kann schnell den Eindruck bekommen, dass Minimalismus DAS Allheilmittel für ein gutes Leben ist, aber das ist es nicht. Minimalismus ist kein Zaubermittel und auch nicht in allen Lebenslagen möglich. Minimalismus passt auch nicht zu jedem. Man ist weder ein besserer noch ein schlechterer Mensch, wenn man arm ist, minimalistisch oder pompös lebt.

Trotzdem suggerieren das vor allem die Sozialen Medien. Teilweise werden mit Minimalismus wenige Möbel, aber dafür teure Designermöbel verbunden. Oder kahle Wohnungen, die eher einem OP-Saal ähneln, als einem gemütlichen zu Hause. Alles ist immer schön aufgeräumt, total einfach, modern, neu und elegant. Gerade Marie Kondo vermittelt, dass mit einer aufgeräumten und entrümpelten Wohnung alle Probleme gelöst werden. Welch ein Hohn! Diese Menschen verdienen mit ihrem Content Geld und vermitteln dadurch oft ein völlig falsches Bild vom Minimalismus. Sie lächeln in die Kamera und heben den Minimalismus auf eine Art Schrein, mit völlig falschen Verbindungen.

Für mich ist auch Cederic Waldburger kein Minimalist, wenn man Minimalismus in seiner Grundform versteht: Er hat keine Wohnung, sein Hab und Gut passt in eine Tasche. Töpfe braucht er nicht, weil er täglich in Restaurants speist. Bettwäsche ist auch nicht nötig, die erhält er ja in Hotels, in denen er lebt – merkst du den Fehler? Er jettet zudem um die Welt. Ist das wirklich minimalistisch? An Gegenständen vermeintlich ja – er braucht sie ja doch, holt sich die nur auf andere Art und Weise – aber ist das wirklich eine minimalistische Lebenseinstellung?

Diese Darstellungen bilden überhaupt nicht die Realität ab. Sie zeichnen ein völlig falsches Bild und erfinden ein Ideal, dass kaum zu erreichen ist und dem kaum ein Mensch gerecht werden kann – wenn man das überhaupt möchte. Das was wir online sehen, zeigt nicht die Vielschichtigkeit von Minimalismus. Dass das Ärger und Unverständnis bei anderen Menschen auslösen kann, kann ich vollkommen nachvollziehen.

Minimalismus in seiner Grundform kann helfen, muss aber nicht

Minimalismus ist, wie wir alle jetzt gelernt haben, im Gegensatz zur Armut, eine bewusste Entscheidung. Minimalismus ist ein Lebensstil, der sich auf die wesentlichen Dinge im Leben beschränkt. Es geht um Klarheit, Ballast loswerden, weniger und dafür bewusster konsumieren, um mehr Raum und Freiheit. Es geht um Weniger von allem. Minimalismus in seiner Grundform ist nicht die Designerwohnung mit wenigen und dafür neuen, teuren Möbeln. Minimalismus ist nicht das ständige um die Welt jetten, täglich in Restaurants zu speisen und auch nicht in Hotels zu leben.

Wenn wir weniger über unsere Verhältnisse leben, weniger konsumieren, nicht jedem Trend hinterher laufen, wenn wir keine Spontankäufe mehr tätigen, zum Großteil auf Second Hand umsteigen und uns beim Einkauf auf das Notwendige im Leben beschränken, sparen wir Geld. Oft ist es doch so, dass wir zu viele Dinge kaufen, die wir nicht brauchen, weil es vermeintlich günstig ist. Danach liegen die Dinge oft ungenutzt in der Ecke oder stauen sich an. Wie viele Wohnungen sind mit Zeug vollgestellt, die man nicht braucht und auch gar nicht genutzt werden? Wir setzen falsche Prioritäten und einen Anteil daran trägt auch die Werbung.

Manchmal führt auch die Unzufriedenheit im Leben dazu, dass wir durch Käufe bestimmte negative Gefühle kompensieren wollen – mir ging es auch so und ich ertappe mich auch immer wieder dabei, wie diese Gefühle hochkommen. Aber da hilft nur, sich zu reflektieren und dem zu widerstehen.

Fazit

Wir müssen uns deutlich machen, dass es nicht DEN einen Minimalismus gibt, dass Minimalismus ein Lebensstil ist, dass die Medien ein völlig falsches Bild vom Minimalismus zeichnen, dass Minimalismus nicht immer die Lösung für alle Probleme ist und das Armut kein Minimalismus, sondern Zwang ist. Wenn wir das für uns klar haben, sollte es diese verfeindeten Ansichten nicht mehr geben.

Vielleicht sollten wir auch nicht immer irgendwelche Schubladen öffnen. Schubladen schränken ein. Wir selbst bezeichnen uns nicht als Minimalisten, sondern als Menschen, die minimalistischer leben wollen. Ich persönlich finde, dass das etwas anderes ist als zu sagen, ich bin ein Minimalist.

Um auf die Ursprungsfrage zurückzukommen, ob Minimalismus nur für Gutverdiener oder Reiche machbar sei: Die Frage ist nicht leicht zu beantworten und ich glaube, dass es da keine allgemeingültige Antwort drauf gibt. Trotzdem denke ich, dass jeder vom Minimalismus profitieren kann, wenn er in seiner oben beschriebenen Grundform betrieben wird. Ich bin der Auffassung, dass ein gutes Einkommen es einfacher macht, minimalistisch zu leben, glaube aber auch, dass Menschen mit wenig Geld durch Minimalismus mehr finanziellen Spielraum erlangen und davon profitieren können. Trotzdem bleiben bei Letztgenannten oft die finanziellen Sorgen, die einen belasten können und das Leben teilweise schwer machen. Hier kann es, wie so oft im Leben, keine klare Antwort geben, da es auch von der Lebenseinstellung, Haltung und vielen anderen Faktoren abhängt.

Ich merke beim Schreiben, dass sich mir noch viel mehr interessante Fragen eröffnen. Man könnte noch weiter in die Tiefe gehen: Was ist Armut? Ab wann ist man arm? Ist jemand mit wenig Geld wirklich arm? Besitzen Menschen in Armut tatsächlich weniger Gegenstände oder horten sie eher, weil sie Dinge finanziell nur schwer ersetzen können oder ihre Armut nicht zeigen wollen? Aber das würde an dieser Stelle zu weit gehen und ist noch wieder ein anderes Thema. Es freut mich, wenn du dir selbst dazu Gedanken machst und für dich eine persönliche Antwort findest.

Nur weil in den Sozialen Medien Minimalismus als Minimalismus verkauft wird, muss nicht unbedingt Minimalismus drin sein.

Du interessierst dich für Minimalismus und willst mehr darüber lesen? Dann bist du auf unserem Blog in der Kategorie Minimalismus genau richtig. Klick dich mal durch.

Liebe Grüße,
Jani

Minimalismus arm reich

3 Gedanken zu „Ist Minimalismus nur was für Reiche oder Gutverdiener?“

  1. Danke für den Artikel! Ich hätte auch gerne vieles aussortiert, aber ich muss mir dazudenken: wenn ich es irgendwann doch mal brauche, werde ich es mir vielleicht nicht leisten können. Heißt nicht, dass ich nicht manches weggeben könnte, aber vieles eben besser nicht.

  2. Was du schreibst, wie Minimalismus in den Medien dargestellt wird, sehe ich genauso. Es wirkt manchmal auf mich so sarkastisch. zB die Teakholz-Leiter fürs Bad als Handtuchaufänger für 200€ (?!) auf einem Minimalismus-Blog. Das ist dann mehr Lifestyle, für mich persönlich total absurd. Oder Vorratsgläser für 90 € neu kaufen.
    Ich glaube, das Problem sind oft Schlagworte, die eine bestimmte Vorstellung vermitteln, vielleicht weil es auch die Medien so machen. Oder Schlagworte, die das Gefühl geben, alles andere abwerten, zB „ich bin 100% vegan aus Überzeugung!“ (und du schlecht, weil du Fleisch isst)
    Ich glaube es ist wichtig, achtsam zu kommunizieren und positiv vorzuleben anstatt mit dem erhobenen Zeigefinger. Letzteres sehe ich bei euch nicht, mir kam aber gerade die Erinnerung an einen Yogalehrer-Kollegen, den ich mit der Einstellung „Natur oder Technik. Du musst dich entscheiden“ sehr extrem fand, und gleichzeitig sehr fragwürdig, weil er selbst auch ein Smartphone hatte, eine Internetseite und sicher auch mehr Verkehrsmittel nutzte als nur das Rad.

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