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Die Löffeltheorie

Wenn wir über Minimalismus sprechen, heben wir immer die Bedeutung des einfachen Lebens hervor, sich auf das Wesentliche zu beziehen und das zu tun, was einem gut tut und auf die eigenen Belastungsgrenzen zu hören und diese zu wahren. In diesem Zuge möchte ich dir die Löffeltheorie (Spoon-Theory) aus dem Jahr 2003 von der US-amerikanischen Bloggerin Christine Miserandino vorstellen.



Was ist die Löffeltheorie?

Die Löffeltheorie bezieht sich auf die vorhandene Energie eines Menschen und ist ein Gedankenexperiment, um die Lebensrealität von Menschen mit einer chronischen Erkrankung zu veranschaulichen. Ich möchte diesen Kreis noch sinnbildlich um Menschen mit Behinderung und Menschen mit sonstigen Einschränkungen/Belastungen erweitern, denn auch (vermeintlich) gesunde Menschen haben manchmal verschiedene einschränkende Belastungen zu tragen.

Vielleicht fragst du dich an dieser Stelle, warum ich eine Theorie, die sich eigentlich auf chronisch kranke Menschen bezieht, auf einem Blog für Minimalismus und Nachhaltigkeit vorstelle. Das ist ganz einfach zu beantworten: Ich möchte die Sichtbarkeit, die Akzeptanz und das Verständnis für Menschen mit chronischen Erkrankungen und/oder Behinderungen fördern und darauf aufmerksam machen. Gleichzeitig kann die Löffeltheorie dir dabei helfen, dein eigenes Energielevel herauszufinden, deine persönlichen Belastungsgrenzen vor Augen zu führen, zu verstehen, zu akzeptieren und ggf. etwas an deinem Lebensstil zu verändern.

Die Autorin selbst leidet an der chronischen Autoimmunerkrankung Lupus, die sie im Alltag einschränkt. Ihre Freundin wollte beim gemeinsamen Essen im Restaurant wissen, wie es sei, mit dieser Krankheit zu leben. Miserandino fiel es schwer, diese Frage zu beantworten.

„Ich schaute mich am Tisch um, um nach Hilfe oder Rat zu fragen oder zumindest etwas Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Ich versuchte, die richtigen Worte zu finden. Wie sollte ich eine Frage beantworten, die ich selbst nie beantworten konnte?“

Christine Miserandino, But you don’t look sick

So schwer es für Betroffene ist, die Einschränkungen zu beschreiben, ist es für Außenstehende schwer, das Leben von chronisch kranken Menschen oder Menschen mit Behinderung zu verstehen und sich hineinzuversetzen.

1 Löffel = 1 Energieeinheit

Also sammelte Miserandino zwölf Löffel. Jeder dieser Löffel steht für eine Energieeinheit, die sie als chronisch kranker Mensch zur Bewältigung von Alltagsaufgaben täglich zu Verfügung hat. Diese Löffel müssen jeden Tag genau eingeplant und verteilt werden, um die alltäglichen Aufgaben und Tätigkeiten zu meistern. Mit dieser Symbolik wollte sie die Unterschiede im Alltag von Menschen mit und Menschen ohne chronischen Erkrankungen und/oder Behinderungen verdeutlichen. Bei jeder noch so kleinen Alltagsaufgabe müssen Entscheidungen getroffen werden, ob der Energiehaushalt reicht, ob noch genügend Löffel vorhanden sind. Was für andere im Alltag vollkommen selbstverständlich ist, muss bei Menschen mit chronischen Erkrankungen und/oder Behinderungen oftmals durchdacht werden.

Miserandino gab ihrer Freundin die zwölf Löffel. Ihre Freundin sollte alle Aktivitäten eines Tages aufzählen und jedes Mal einen Löffel dafür wegnehmen. Ihre Freundin wollte mehr Löffel haben, weil sie mit den zwölf Löffel nicht auskam. Sie kam mit den Löffeln nicht einmal über die morgendlichen Aktivitäten hinaus. Miserandino wollte damit erreichen und hat erreicht, dass ihre Freundin nachfühlen konnte, dass Miserandino ihr Leben, so wie sie es kannte, verloren habe und gleichzeitig deutlich machen, wie stark eine chronische Erkrankung und/oder Behinderung den Alltag verändert und Kontrolle übernimmt.

Wenn du gesund bist, gehst du davon aus, unendlich viele Löffel zur Verfügung zu haben. Aber wenn du deinen planen musst, musst du genau wissen, mit wie vielen Löffeln du in den Tag startest. Das garantiert dir nicht, dass du auf dem Weg nicht vielleicht welche verlierst, aber es hilft dir zu wissen, womit du beginnst.

Christine Miserandino, But you don’t look sick

Eine anschauliche Erklärung

Um das ganze einmal zu verdeutlichen:

Gehen wir davon aus, dass ein Mensch ohne jedwede Einschränkungen täglich 40 Löffel (Energieeinheiten) zur Verfügung hat und verbraucht. Einem Menschen mit Einschränkungen stehen – je nach Ausprägung etc. – in diesem Beispiel 12 Löffel für 24 Stunden zur Verfügung.

Die folgende Grafik soll das Gedankenexperiment beispielhaft veranschaulichen:

Die Grafik zeigt, dass Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen häufig sorgfältig auswählen müssen, welche alltäglichen Tätigkeiten sie ausüben. Chronische Erkrankungen und Behinderungen bringen verschiedene Einschränkungen und Anstrengungen mit sich. Wenn die Löffel weg sind, sind sie weg. Man muss sich zwischen Tätigkeiten entscheiden, oft bleibt etwas auf der Strecke. Für die Ausübung aller Tätigkeiten und Anforderungen fehlt die Energie. Hobbys sind noch nicht mit inbegriffen, die kommen extra. Manchmal kann man sich aus dem morgigen Löffelvorrat einen „Löffel leihen“, aber dann hat man an dem folgenden Tag weniger Löffel, also Energie.

Ständiges planen notwendig

Wenn einem die Bedeutung dessen bewusst wird, was chronisch kranke Menschen und Menschen mit Behinderung jeden Tag leisten und mit welchen Einschränkungen sie leben müssen, sollte man ihnen mit Respekt begegnen, ihnen Anerkennung zollen und nicht mit dem Finger zeigen, lästern, freundlich nicken oder Druck ausüben wie „Du musst nur mehr…“ oder „Das ist doch nur…“ oder „Du siehst aber gar nicht krank aus!“. Chronisch kranke Menschen sind in ihrer Freiheit eingeschränkt: Ständig müssen sie planen, um den Alltag zu bewältigen.

Es gibt Tage, die leichter sind und Tage, die schwerer sind. Die Löffel sind auch nicht jeden Tag im gleichen Maße vorhanden. Aber die Erkrankung begleitet einen Tag für Tag.

Die Löffeltheorie und Minimalismus

Wie schon gesagt, bezieht sich die Löffeltheorie auf Menschen mit chronischen Erkrankungen. Ich habe sie in diesem Artikel noch um Menschen mit Behinderungen und sonstigen Einschränkungen und Belastungen erweitert.
Sie kann dir im Bereich Minimalismus helfen, dein eigenes Energielevel herauszufinden und ggf. einen Alltag anzupassen, falls du struggelst. Das Gedankenexperiment kann dir auch dabei helfen, Verständnis für dich aufzubringen, wenn dir mal alles über den Kopf wächst und du keine Kraft mehr hast, um nachsichtiger und liebevoller mit dir zu sein.

Ich empfehle dir dazu auch folgende Beiträge:

Arbeit & Minimalismus – ist eine Vollzeitstelle wirklich erstrebenswert?
Minimalismus, Druck und Stress – Darum kann dir Minimalismus das Leben erleichtern
Das Streben nach Mehr – über Scheinbedürfnisse, innere Leere und Minimalismus
Mit Ausmisten allein ist es nicht getan – Minimalismus, Psyche & Bedürfnisse

Gleichzeitig hoffe ich, dich für die Belange von Menschen mit chronischen Erkrankungen und/oder Behinderungen sensibilisiert zu haben. Denn die Einschränkungen haben in der Regel nichts mit „nicht wollen“, sondern mit „nicht können“ zu tun. Nur weil jemand nicht krank, behindert oder belastet aussieht, heißt das nicht, dass er es nicht ist und keine Einschränkungen hat.

Viele Grüße,
Janina

4 Gedanken zu „Die Löffeltheorie“

  1. Liebe Janina,
    diese Theorie lese ich zum ersten Mal und finde sie auch für uns als Familie sehr spannend. Bei meinem Mann wurde vor einigen Jahren ADHS diagnostiziert und wir verrennen uns immer wieder in Diskussionen, wer wie sehr nicht mehr kann 😀 Wir haben zwei kleine Kinder und keine Großeltern etc in der Nähe, da ist Energie einfach knapp.
    Die Sache mit den Löffeln werde ich mal mit ihm teilen, ich kann mir gut vorstellen, dass uns das hilft.
    Vielen Dank!
    Luise

  2. Liebe Janina,

    vielen Dank für diesen einfühlsamen und aufklärenden Beitrag zur Löffeltheorie. Es ist so wichtig, dass wir alle ein tieferes Verständnis für die täglichen Herausforderungen entwickeln, mit denen Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen konfrontiert sind. Deine Verbindung zwischen Minimalismus und dem bewussten Umgang mit unseren eigenen Energievorräten ist nicht nur innovativ, sondern auch ungemein hilfreich. Es erinnert uns daran, achtsam mit unseren Ressourcen umzugehen und gleichzeitig Empathie für diejenigen zu haben, die mit weniger „Löffeln“ auskommen müssen. Dein Beitrag ist ein wertvoller Schritt hin zu mehr Verständnis und Akzeptanz in unserer Gesellschaft.

    Herzliche Grüße,
    Johann

  3. Ganz herzlichen Dank für diesen tollen Beitrag. Ich kannte die Löffeltheorie noch nicht und finde es sehr anschaulich!
    Darüber werde ich mich definitiv noch näher informieren!
    Viele Grüße aus eurer Nachbarschaft!
    Sabine

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