Arbeit & Minimalismus – ist eine Vollzeitstelle wirklich erstrebenswert?

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Zuletzt aktualisiert am 20. September 2023

Auf unserer Minimalismusreise kamen wir irgendwann unweigerlich an den Punkt, uns mit unserer Arbeit zu beschäftigen. War das, was wir taten, wirklich das, was wir wollten? Wollten wir wirklich in Vollzeit arbeiten? Der Punkt Arbeit hat es in sich, weil es unsere Existenzgrundlage ist. Veränderungen sind in diesem Bereich aus verschiedenen Gründen gar nicht so einfach: (Fehlende) Qualifikationen, Gehälter, notwendige Einnahmen wegen zu bezahlender Ausgaben/Schulden, Fahrzeiten, Kinderbetreuung, Pflege uvm. Wenn man einen Job wechseln oder reduzieren will, spielen viele Aspekte mit rein und die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Doch möchten wir dir in diesem Artikel unsere Gedanken erläutern und dich inspirieren.



Macht eine Vollzeitstelle glücklich?

Wir kamen immer wieder unweigerlich zu der Frage, ob eine Vollzeitstelle für uns erstrebenswert ist und uns glücklich macht. 

Lange Zeit haben wir den Fokus auf das Geld gelegt. Wir wollten möglichst viel Geld einnehmen, damit wir uns was leisten können und möglichst viel in die Rente einzahlen. Doch wurden wir mit steigenden Einnahmen nicht automatisch glücklicher

Wichtige Anmerkung
Es gibt Fälle, da geht es nicht anders, da muss man in Vollzeit arbeiten. Beispielsweise weil das Grundgehalt so niedrig ist, man alleinerziehend ist oder man verpflichtende, nicht (zeitnah) reduzierbare Ausgaben hat. Auch gibt es Menschen, die Vollzeit arbeiten wollen, es aber auf Grund verschiedener Rahmenbedingungen nicht können. Darum soll es in diesem Artikel nicht gehen. Ich stelle auch nicht die Vollzeitarbeit an sich Frage. Wenn jemand in Vollzeit arbeitet (arbeiten möchte) und damit glücklich ist, dann ist das toll!
Es geht mir um das gesellschaftliche Bild einer Vollzeitstelle. Diesen Gedanken hinterfrage ich.
Außerdem ist mir sehr bewusst, dass wir uns in einer privilegierten Situation befinden. Ich betrachte diese Situation mit viel Demut und weiß, dass es nicht allen Menschen so geht und sich unsere Situation auch jederzeit ändern kann.

Wir haben selbst an eigenem Leibe gespürt, wie sehr Arbeit einen einnehmen und auch krank machen kann. Wir erleben im Freundes- und Bekanntenkreis auch immer wieder, wie Arbeit einen vereinnahmt und auslaugt. Hinzu kommt:

  • Wie viele Elternteile bekommen wenig von ihren Kindern mit, weil sie ihren Fokus auf die Arbeit legen?
  • Wie viele Paare haben wenig Zeit miteinander, weil sie die Arbeit so einnimmt?
  • Wie viele Menschen gehen keinem oder wenigen Hobbys und Leidenschaften nach, weil sie so erschöpft von der Arbeit sind?
  • Wie viele Menschen sind zwar körperlich in der Familie anwesend, aber nicht psychisch, weil sie die Arbeit so belastet?

Arbeitsbelastungen und Krankheitstage steigen

Machen wir uns nichts vor: Arbeitsbelastungen und auszuführenden Tätigkeiten nehmen stetig zu, die Gehälter steigen gar nicht bis wenig, Personal fehlt an allen Stellen und Arbeit nimmt einen unheimlich großen Stellenwert im Leben ein. Nicht umsonst nehmen die Krankheitstage wegen psychischer Erkrankungen zu: Seit 2010 um 56 Prozent. Diese Zunahme liegt einerseits an der größeren Sensibilisierung in Bezug auf psychischen Erkrankungen in der Gesellschaft, andererseits an der besseren Diagnosenstellung und auch an der steigenden Arbeitsbelastung.1

Forderung nach längeren Arbeitszeiten

Immer wieder werden insbesondere jüngere Generationen kritisiert, weil sie ihren Fokus weg von der Arbeit und mehr auf ihr Wohlbefinden legen. Es werden Forderungen nach einer erhöhten Wochenarbeitszeit laut, u.a. vom Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung für Arbeitgeberverbände (BDA) Steffen Kampeter. Er ist der Auffassung, dass man auch mit einer 39 Stunden Woche eine Work-Life-Balance schaffen kann. Auch fordert er, dass Leistungen in der Schule wieder eine stärkere Rolle spielen und hält die Rente mit 63 für eine „Fehlleistung der Politik“.2 Ich habe selbst Kinder und in der der Schulsozialarbeit gearbeitet und kann sagen: Leistungen spielen in der Schule eine sehr große Rolle und belasten viele Kinder und Jugendliche und insgesamt Familienleben (Stichwort Leistungsdruck!). Viele Familien und auch Menschen ohne Familie haben selbst unheimlich viele Lasten und Probleme zu tragen und sind stark belastet. Ich könnte an dieser Stelle noch soziologisch ausholen, werde darauf aber auf Grund der Komplexität verzichten und mich auf das Wesentliche beziehen.

Menschen leisten unheimlich viel

Ja natürlich kann man auch bei einer 39 oder 40 Stunden Woche eine ausgeglichene Work-Life-Balance  haben, wenn man keine anderen (belastenden) Verpflichtungen und keinen anstrengenden Job hat. 

Diese These soll er aber mal mit jemandem diskutieren, der/die

  • mehrere Jobs gleichzeitig hat, 
  • körperlich schwer arbeitet, 
  • Aufgaben und Arbeit für mehrere Personen macht,
  • im Schichtdienst und/oder am Wochenende arbeitet,
  • immer wieder auf Grund von Personalmangel einspringt, andere Tätigkeiten übernimmt und Mehrarbeit leistet,
  • Kinder zu versorgen hat und/oder
  • Pflegende/r Angehörige/r ist,
  • alleinerziehend ist,
  • körperlich und/oder seelisch erkrankt ist,
  • eine beeinträchtigende Behinderung hat,
  • … die Liste ist natürlich nicht abschließend.

Wenn ich das lese, könnte ich mich sehr aufregen – wie grundsätzlich gerade in Bezug auf Politik (Ich sag nur Lindner und seine Einsparungen!). Ich frage mich immer wieder – und das ist meine persönliche Meinung – ob Menschen in Führungspositionen oder Politiker:innen mitbekommen, was Familien und überhaupt Menschen heute alles leisten und wie schwierig das Leben teilweise geworden ist. Es ist gar nicht so einfach und Schwarz und Weiß, wie die Lebenslagen von genannten Personen oft angesehen werden.

Der Leistungsdruck fängt oft schon in der Schule an und hört mit dem Arbeitsleben nicht auf. Jeder Mensch, von klein auf, hat schon einiges zu tragen, die einen mehr, die anderen weniger. Kein Mensch, kein Familiensystem, keine Bedingungen sind gleich. Kein Mensch geht gleich mit der selben Anforderung um. Das hat nichts mit Verweichlichung oder Faulheit zu tun, sondern mit Stärken und Schwächen und mit einem vernünftigen Menschenbild und Verständnis für die Belange der Menschen. Es ist großartig, wenn Menschen anfangen, auf sich, auf ihre Wünsche, Bedürfnisse und ihr Wohlbefinden zu achten.


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Scheinbar bin ich mit meiner kritischen Haltung Kampeters Aussage gegenüber nicht alleine. Ich habe auf unserem Instagramkanal gefragt, was unsere Followerïnnen zu der Aussage von Kampeter sagen. Ihre Antworten waren ziemlich eindeutig:

  • „Ich bin immer wieder entsetzt darüber, wie Menschen in Führungspositionen so blind für Veränderungen sein können und nicht bereit, positive VERTRAUENSVOLLE Veränderungen zu gestalten. Ich hatte die Nachricht gestern schon gelesen und war einfach nur sprachlos…“
  • „Wtf? Wer hat dem ins Hirn gesch****? (Netter kann man das kaum sagen)“
  • „Der Herr gehört ins letzte Jahrhundert mit seiner Meinung.“
  • „Mir fehlen dazu die Worte. Einzig alt, weiß, Mann ploppen auf…“
  • „Der Markt regelt das (Lachsmilie)!“
  • „Mit Sicherheit nicht!“

Arbeit erfüllt, ist aber nicht alles

Nehmen wir mal Frederik und mich als Beispiel: Wir arbeiten wirklich gerne. Wir brauchen die Arbeit, sie erfüllt uns mittlerweile auch (was ein langer, harter Weg an Weiterbildungen und Studium neben dem Familienleben bedeutete). Wir werden gebraucht und wir bekommen Anerkennung. Wir brauchen auch die finanzielle Sicherheit. Doch soll die Arbeit nicht unser Lebensmittelpunkt sein, um die sich alles dreht. Wir möchten den Fokus auf uns, unsere Gesundheit und Wohlbefinden, auf unsere Familie, auf unsere Hobbys und auf das, was uns Freude bereitet, legen.

Jeder Mensch ist ersetzbar, auch bei der Arbeit. In einer Beziehung aber nicht. Frederik ist für mich nicht ersetzbar und ich nicht für ihn. Wenn ich später in Rente gehe, dann werde ich mich zwar an Stellen meines Arbeitslebens erinnern, aber ich war dann eben auch nur eine Person, die ersetzt wird. An die Erinnerungen mit Frederik werde ich mich aber immer erinnern und mein Leben mit ihm geht weiter, auch wenn mein berufliches Leben irgendwann beendet ist.

Ich bin mit Frederik verheiratet. Nicht mit der Arbeit.

Was ist mit einer 4-Tage-Woche?

Wie wäre es alternativ mit einer 4-Tage-Woche? Damit meine ich keine 4-Tage-Woche, in der 39 oder 40 Stunden innerhalb von 4 Tagen absolviert werden, sondern von einer Stundenreduzierung auf durchschnittlich 32-35 Wochenarbeitsstunden. Die Politiker:innen und Wirtschaftsleute würden an dieser Stelle wieder auf damit einhergehende Probleme hinweisen, aber die sind für mich gerade zweitranig, um die geht es hier nicht. Die Vorteile einer solchen stundenreduzierten 4-Tage-Woche liegen für mich auf der Hand:

  • Bessere Work-Life-Balance und dadurch eine höhere Zufriedenheit
  • Bessere Vereinbarkeit und Teilung von Familienarbeit/Carearbeit 
  • Abnahme von Mehrfachbelastungen
  • Weniger Stress und eine bessere Gesundheit
  • Weniger Krankheitstage, was Auswirkungen auf Kollegïnnen und auch Krankenkasse (im weiteren Jobcenter, Sozialamt, Rentenkasse etc.) hat
  • Positiveres und ausgeglicheneres Arbeitsklima
  • Zeit für Weiterbildungen

Frederik und ich streben eine 4-Tage-Woche oder eine 4,5-Tage-Woche an und sind auf gutem Weg dahin. Ich habe meine Stunden auf 35 Stunden pro Woche reduziert und bin damit derzeit sehr zufrieden. Natürlich bringt eine Stundenreduzierung Einkommenseinbußen mit sich, keine Frage. Aber:

Minimalismus hilft Klarheit zu finden und das Konsumverhalten zu verändern.

Im Laufe der Zeit haben wir unsere Ausgaben massiv reduziert und unser Konsumverhalten sehr stark verändert, dass wir gar nicht mehr so viel Geld brauchen und weniger arbeiten können. Das Geld fehlt also nicht wirklich.

Durch Minimalismus hat sich in unserem Leben sehr stark verändert, auch unsere Einstellungen, Haltungen und Prioritäten. Was mit dem Ausmisten begann, ging weiter über sehr intensive Selbstreflexionen, Veränderungen in der Partnerschaft und  hin zur Verbesserung der Finanzen. Das alles veränderte sich nicht von Heute auf Morgen und brauchte Zeit. Wir wissen dadurch, was uns wichtig ist, was wir wollen, was wir verändern können und was wir tun müssen, aber auch wo uns die Hände gebunden sind.


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Im Laufe der Zeit wurde uns klar, dass wir nicht nach einer Vollzeitstelle streben und sie uns, genauso wenig wie Geld, auch nicht automatisch glücklich macht. Es ist schön und wichtig Sicherheiten zu haben und Sicherheiten lassen uns auch ruhiger schlafen. Aber was uns wirklich glücklich macht ist gemeinsame Zeit. Wenn wir zusammen sind, sind wir zufrieden. Wenn wir gemeinsame Erlebnisse haben oder uns mit Freundïnnen treffen, sind wir glücklich.

Eine 4-Tage-Woche bzw. eine 4,5-Tage-Woche ist für uns ein sehr guter Kompromiss zwischen Bedürfnissen, Arbeit, Freizeit, Verpflichtungen, Rente usw. 

Der Kern des Ganzen: Selbstbestimmung

Viel wichtiger als die Arbeitszeitdiskussion selbst ist die Selbstbestimmung. Wenn man selbst entscheiden kann, wie viele Stunden man arbeiten kann und/oder möchte, sich die Arbeitsstelle selbst aussuchen und Lebensmodelle und -formen selbst wählen kann, führt das zu mehr Glück, ganz egal, ob man Vollzeit oder Teilzeit arbeitet. Sobald einem der Zwang von Außen auferlegt wird, kann das zu Druck, Stress und Unzufriedenheit führen.

Menschen sollten so leben dürfen und können, wie die Familienverhältnisse es erfordern und dabei glücklich sein und gesund bleiben – ohne Kommentare und Bewertungen von außen.

Mir ist aber auch vollkommen klar, dass das eine Utopie ist. Trotzdem ist es das, was ich mir für alle Menschen wünsche: Selbstbestimmtheit. Vielleicht kannst du dich an dieser Stelle einmal fragen:

  • Wie zufrieden bist du mit deiner beruflichen Situation allgemein?
  • Was gefällt dir an deiner Arbeit und was nicht?
  • Möchtest du gerne mehr oder weniger Stunden arbeiten?
  • Was muss sich verändern, damit du diesbezüglich glücklich bist?
  • Was davon kannst du selbst verändern, was liegt nicht in deiner Hand?
  • Ist Minimalismus ein Konzept für mich? Wie kann ich es umsetzen?

Das ist natürlich nur (m)eine Sicht auf das Thema. Das Thema ist so komplex und vielschichtig und eigentlich könnte ich noch einige soziologische, sozialarbeiterische, philosophische, wirtschaftliche und sozialstaatliche Aspekte aufnehmen und von verschiedenen Seiten beleuchten. Darauf verzichte ich bewusst, weil es den Rahmen sprengen würde und ich all die Komplexität und Möglichkeiten nicht in einem Artikel aufnehmen kann und möchte.

In diesem Sinne,

viele Grüße,
Janina

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Quellen:
1 https://anti-stress-team.de/blog/stress/burnout-statistiken/
2 https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/arbeit-mehr-bock-kampeter-psyche-krankheit-100.html 

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